Zur Sache: SOS für die Notfallversorgung?
Interview aus Hamburg
Fertige Vorschläge für eine Reform der Notfallversorgung liegen schon lange auf dem Tisch. Schließlich haben sich bereits zwei Bundesregierungen intensiv damit befasst. Ganz wichtig dabei: Für den nächsten Versuch sollte unbedingt der Rettungsdienst eingebunden werden.
Kernpunkte des aktuellen Referentenentwurfs von Bundesgesundheitsministerin Nina Warken sind eine verbesserte Patientensteuerung durch den Ausbau und die Stärkung der Rufnummer 116 117 sowie eine Vernetzung mit den Rettungsleitstellen (Rufnummer 112) sowie die Einrichtung Integrierter Notfallzentren (INZ) als sektorenübergreifende Behandlungsstruktur.
Warum eine Reform der Notfallversorgung in dieser Legislaturperiode endlich beschlossen werden muss und welche Rolle der Rettungsdienst dabei einnehmen sollte, sagt Maren Puttfarcken, Leiterin der TK-Landesvertretung Hamburg, im Interview.
TK: Frau Puttfarcken, was ist aus Ihrer Sicht das Hauptproblem bei der aktuellen Ausgestaltung des Notfallversorgung?
Maren Puttfarcken: Anhand von Berichten aus den Notaufnahmen der Krankenhäuser und aus Umfrageergebnissen wissen wir, dass viele Menschen in Notfallsituationen unsicher sind, wo sie die richtige Hilfe bekommen. Es macht aber keinen Sinn, dass wir die Patientinnen und Patienten mit dieser Frage allein lassen. Stattdessen benötigen wir ein System, das die Patientinnen und Patienten unterstützt und in Notfällen zielgerichtet in die geeigneten Hilfsangebote lenkt. Im besten Fall sollte eine standardisierte, digitale Ersteinschätzung vorgeschaltet sein. Das würde die Notaufnahmen entlasten und dafür sorgen, dass die Zahl der Einsätze im Rettungsdienst nicht immer weiter ansteigt.
Dass die Notaufnahme für sehr viele automatisch die erste Anlaufstelle ist, zeigt eine repräsentative Befragung, die wir als TK-Landesvertretung vor der Wahl zur Hamburgischen Bürgerschaft bei Forsa in Auftrag gegeben hatten: Von Befragten, die in den vergangenen drei Jahren außerhalb der Praxiszeiten gesundheitliche Beschwerden hatten, suchte mehr als ein Drittel (36 Prozent) direkt die Notaufnahme in einem Krankenhaus auf. Jede bzw. jeder Fünfte (20 Prozent) kontaktierte unter der Rufnummer 116 117 den ärztlichen Bereitschaftsdienst, 18 Prozent riefen unter 112 einen Krankenwagen, und 14 Prozent warteten, bis die Arztpraxis wieder geöffnet war. Lediglich 10 Prozent suchten selbstständig eine ärztliche Bereitschaftspraxis auf.
Maren Puttfarcken
Wir benötigen ein System, das die Patientinnen und Patienten unterstützt und in Notfällen zielgerichtet in die geeigneten Hilfsangebote lenkt.
TK: Welche Ansätze stehen im Referentenentwurf zur Reform der Notfallversorgung, und warum ist es gut, dass der Rettungsdienst in dieser Legislaturperiode in die Reform aufgenommen wurde?
Puttfarcken: Insbesondere die geplanten INZ und die telefonische Vernetzung der neuen, aus der Terminservicestelle ausgegliederten Akutleitstelle (116 117) mit der Rettungsleitstelle (112) könnten die Notfallversorgung insgesamt verbessern und dafür sorgen, dass diese künftig besser koordiniert abläuft. Wichtig dabei ist aus unserer Sicht, dass alle Patientinnen und Patienten zunächst eine standardisierte Ersteinschätzung erhalten. Denn dann wären sie nicht mehr allein mit der Entscheidung, ob sie bei einem Notfall eine Praxis oder die Notaufnahme aufsuchen sollten. Stattdessen hätten sie einerseits die nötige Orientierung und bekämen andererseits auch gleich eine zielgerichtete, passende medizinische Versorgung. Wenn es sich nicht um einen akuten Notfall handelt, sollten Hilfesuchende direkt in die Terminvermittlung des ärztlichen Systems gelotst werden. Die Einschätzung müsste natürlich überall in Deutschland gleich sein und nach bundeseinheitlichen Qualitätsvorgaben erfolgen.
Aus Sicht der TK ist es essenziell, dass der Rettungsdienst mitgedacht und am besten auch gleich in das Sozialgesetzbuch V (SGB V) integriert wird. Im aktuellen Referentenentwurf ist diese Forderung enthalten - hoffentlich bleibt dies im parlamentarischen Verfahren auch so bestehen! Denn wir benötigen beim Rettungsdienst bundeseinheitliche Struktur- und Qualitätsvorgaben sowie eine gezielte Nachbesserung bei den Vergütungsregeln. Einen Flickenteppich bei Ausbildungsstandards, Qualität und Finanzierung können wir uns in Zeiten knapper Ressourcen nicht mehr leisten. Bundeseinheitliche Regeln würden auch Planungssicherheit für Investitionen in Personal, Ausbildung und Fahrzeuge bieten.
TK: Worauf ist bei der Umsetzung zu achten?
Puttfarcken: Aus unserer Sicht müssen wir bei der Umsetzung vor allem daran denken, dass das Personal in den Notaufnahmen entlastet wird und wir zugleich auch die Akutversorgung verbessern. Hierfür könnten die Kassenärztlichen Vereinigungen durchgängig telemedizinische und aufsuchende Notdienste bereitstellen - in Hamburg bietet die KVH dies bereits an. Zusätzlich brauchen wir die Vernetzung der Rufnummern 116 117 und 112. Die Aufgabe einer solchen vernetzten Akutleitstelle bestünde darin, Patientinnen und Patienten anhand der standardisierten Ersteinschätzung in die jeweils geeigneten Versorgungsangebote zu vermitteln - sei es in eine Notdienstpraxis, die Notaufnahme eines Krankenhauses, in Kooperationspraxen während der Sprechstundenzeiten oder auch an telemedizinische Dienste.
Die neuen Vorschläge sollten wir sinnvoll in bestehende Strukturen integrieren, statt neue zu schaffen. In Hamburg konnten wir bereits in unterschiedlichen Settings Erfahrungen mit INZ oder auch einem gemeinsamen Tresen der ambulanten Notfallpraxen und der stationären Notaufnahme machen - zum Beispiel im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE). Insbesondere für Hamburg sollten wir auch darauf achten, dass die Angebote bedarfsgerecht über die Stadt verteilt werden und sich nicht an bestimmten Stellen ballen.