Nachgefragt zur Notfallreform
Interview aus Baden-Württemberg
Eine Reform der Notfallrettung ist schon lange in der Diskussion. Nun hat das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einen Gesetzentwurf vorgelegt. Im Interview erläutert Nadia Mussa, warum eine Umsetzung dieses Entwurfs deutliche Verbesserungen für die Patientinnen und Patienten bedeuten würde.
TK: Wie bewerten Sie den Referentenentwurf?
Nadia Mussa: Der Entwurf zur Notfallreform geht genau in die richtige Richtung. Er verbindet die Sektoren ambulant und stationär. Er macht klare Vorgaben für die Digitalisierung. Und er verankert die medizinische Notfallrettung als Sachleistung in der GKV. Insgesamt kann man also sagen, dass hier ein dickes Brett nun endlich durchgebohrt wurde und veraltete Strukturen aufgebrochen werden. Wichtig ist nun, dass die zentralen Punkte des Entwurfs umgesetzt werden.
Nadia Mussa
TK: Was sind aus Ihrer Sicht die größten Vorteile?
Mussa: Die Absicht, verschiedene Bereiche digital zu vernetzen, wird an mehreren Stellen sichtbar. Bislang arbeiten die Rettungsleitstellen der Kommunen mit der 112 und der ambulante ärztliche Bereitschaftsdienst mit der 116117 getrennt. Das soll nun anders werden. Die Kassenärztlichen Vereinigungen bilden Akutleitstellen, die weiter unter der 116117 erreichbar sind, aber mit den Rettungsleitstellen mit Hilfe der Telematikinfrastruktur vernetzt werden.
Dadurch ist eine wechselseitige Übergabe der Hilfesuchenden möglich, was zu einer viel besseren Steuerung führt. In dem Gesetzentwurf ist die Rede von bundesweit rund 1,2 Millionen Fällen pro Jahr, die von den Rettungsleitstellen an die Akutleitstellen der KVen abgegeben werden könnten.
TK: Ein zentraler Punkt in der Reform ist die Bildung von Integrierten Notfallzentren (INZ). Was hat es damit auf sich?
Mussa: Die INZ bestehen aus der Notaufnahme eines zugelassenen Krankenhauses, einer Notdienstpraxis der KV und einer zentralen Ersteinschätzungsstelle. Dabei besteht die Vorgabe, dass zwischen den Kooperationspartnern alle für die Behandlung erforderlichen Daten der Patientinnen und Patienten in einem standardisieren Datenformat wechselseitig digital übermittelt werden.
Falls sich die Idee der zentralen Ersteinschätzung in der Notfallmedizin bewährt - und daran habe ich keinen Zweifel - wird dieses Instrument in der gesamten ambulanten Versorgung stärker zum Zuge kommen. Das entspricht auch unsere Vorstellungen wie künftig die medizinische Versorgung besser organisiert werden kann. In den Kliniken ohne INZ wird die Ersteinschätzung von der Notaufnahme vorgenommen. Auch das ist ein richtiger, konsequenter Schritt.
TK: Gibt es Punkte, bei denen Sie Bedenken haben?
Mussa: Spannend wird sicher die Finanzierung. Ob sich die in dem Gesetzentwurf in Aussicht gestellten Einsparungen von über einer Milliarde Euro jährlich ab dem Jahr 2029 tatsächlich erreichen lassen, erscheint doch fraglich. Während die jährlichen Mehrausgaben von rund 240 Millionen Euro für die neuen KV-Strukturen wie etwa die Akutleitstellen relativ konkret erscheinen, sind die Effizienzgewinne kaum quantifizierbar.
Hinzu kommt, dass eine nach Landesrecht errichtete Schiedsstelle entscheidet, wenn sich Kassen und Leistungserbringer bei den Entgeltverträgen nicht einigen können. Immerhin gibt es eine Anschubfinanzierung durch den Bund in Höhe von 225 Millionen Euro in die digitale Infrastruktur.
Zudem kann man sich fragen, ob es wirklich ein neues Gremium beim GKV-Spitzenverband braucht, um die Notfallrettung weiterzuentwickeln und Rahmenempfehlungen zu erarbeiten. Der gemeinsame Bundesausschuss wäre hier geeigneter.
TK: Was bedeutet die Reform für Baden-Württemberg?
Mussa: In Baden-Württemberg wurden in den letzten Jahren schon einige Schritte in diese Richtung unternommen. Dazu gehören die Etablierung von Notfallpraxen an Kliniken oder die Telemedizin-Plattform docdirekt der KV.
Darüber hinaus sind mit viel Engagement Projekte wie zum Beispiel die Rettungskette 5G im Ostalbkreis auf die Beine gestellt worden. Dabei wurden die Möglichkeiten aufgezeigt, die eine konsequente Digitalisierung des Rettungsdienstes mit sich bringt. Dazu zählen etwa die Einbindung von Ersthelfern, Systeme zur Anzeige von Krankenhausressourcen im Rettungswagen und die Übertragung relevanter Daten gleich in die Klinik. Durch die Reform ist die Einbindung solcher Elemente in die Regelversorgung immerhin eine realistische Perspektive.
Ambitioniert ist die Vorgabe an die KVen, dass bei der Akutleitstelle die Wartezeit auf eine Ersteinschätzung maximal drei Minuten in 75 Prozent aller Anrufe und maximal zehn Minuten in 95 Prozent aller Anrufe betragen darf. Das gilt besonders für ein großes Bundesland wie Baden-Württemberg. Zusätzlich sollen die Akutleitstellen 24 Stunden täglich über digitale Angebote erreichbar sein.
Dies sind deutliche Verbesserungen für Patientinnen und Patienten und damit gute Gründe, dass sich die Landesregierung für eine Umsetzung der Reform stark macht und im politischen Prozess nicht auf der Bremse steht.