TK: Nadine, mit 30 wurde bei dir eine chronische Darmerkrankung festgestellt. Wie hat sich dein Leben seither verändert?

Nadine Reiche: Also mit 30 steht man eigentlich mitten im Leben und denkt sich: Wow ich kann alles machen: raus aus der Teenagerzeit, rein ins Berufsleben. Die Diagnose hat mich damals dann ziemlich aus der Bahn geworfen: Ich konnte meinen Job nicht mehr ausüben und Konzerte, zu denen ich regelmäßig ging, waren auch nicht mehr möglich. Dadurch, dass ich an täglichen Durchfällen, Schmerzen und Kraftlosigkeit litt, war mein ganzer Alltag auf links gekrempelt. Über die Jahre gesehen habe ich mich aber mit meiner Erkrankung weiterentwickelt. Ich habe gelernt, meine Erkrankung zu akzeptieren und mich mit der Erkrankung neu zu akzeptieren. Vielleicht kann ich keine Leistungssportlerin werden, aber dafür mache ich andere schöne Sachen.

Nadine Reiche

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Gründerin der Selbsthilfe Gruppe in Norddeutschland und im Team chronisch Glücklich e.v. 

Hier geht es zur Podcastfolge "Chronisch krank und trotzdem glücklich" mit Nadine Reiche.

TK: Chronische Darmerkrankungen sind nicht nur ein Tabuthema, sondern auch häufig unsichtbar. Was macht das mit einem?

Nadine: Unsichtbare Erkrankungen sind meiner Meinung nach eines der schwersten Dinge in unserer Gesellschaft. In Kombination mit einer tabuisierten Erkrankung ist es unglaublich schwer, Akzeptanz in der Gesellschaft zu finden und gesehen und gehört zu werden.
Ich wollte aber laut sein und Awareness für die Erkrankung schaffen - für mich und für andere Betroffene. Deshalb habe ich die Selbsthilfe Gruppe in Norddeutschland gegründet und bin Mitglied von "Chronisch Glücklich e. V." . Gemeinsam mit anderen betroffenen Menschen vernetzen wir uns digital, tauschen uns aus, beraten aktiv und organisieren auch gemeinsame Aktivitäten.

TK: Stichwort digital vernetzen - welche Hilfe können digitale Angebote für Menschen mit chronischen Erkrankungen bieten?

Nadine: Da Menschen mit chronischen Erkrankungen häufig nicht flexibel mobil sind, bieten wir unsere Angebote der Selbsthilfegruppe auch weitgehend digital an. So kann jede und jeder Hilfe vom Sofa aus bekommen und auch die Chance haben, sich als Teil der Gesellschaft zu fühlen. Auch telemedizinische Angebote spielen eine wichtige Rolle. Mein Hausarzt bietet das glücklicherweise an und ermöglicht mir so auch Sprechstunden an Tagen, an denen ich das Haus nicht verlassen kann.  

TK: Die Einsamkeitsstudie der TK hat gezeigt, dass Einsamkeit zwar jeden treffen kann, aber Menschen mit chronischen Erkrankungen besonders häufig betroffen sind. Welche Erfahrungen hast du gemacht?

Nadine: Wenn ich nicht das Standing mit der Erkrankung hätte, wie ich es mir bis heute aufgebaut habe, dann würde ich mich deutlich einsamer fühlen. Das größte Problem ist, dass man mit einer derartigen Erkrankung häufig nicht rausgehen kann und damit auch nicht Teil der Gesellschaft sein kann. Da die Krankheit in Schüben verläuft, kann man auch sehr schlecht soziale Aktivitäten im Voraus planen. Im Zweifel muss man dann lang geplante Konzertbesuche, Hochzeiten oder Geburtstage kurzfristig absagen. Da Darmerkrankungen tabuisiert sind, trauen sich einige, die genauen Gründe der Absage gar nicht richtig zu erklären. Das kann Freundschaften und allgemein Beziehungen mit anderen belasten.

Das größte Problem ist, dass man mit einer derartigen Erkrankung häufig nicht rausgehen kann und damit auch nicht Teil der Gesellschaft sein kann. Nadine Reiche, Gründerin der Selbsthilfe Gruppe in Norddeutschland und im Team chronisch Glücklich e.v. 

TK: Was muss in der Gesellschaft passieren, um Einsamkeit bei chronisch Erkrankten vorzubeugen?

Nadine: Aufklärung! Denn Aufklärung sorgt im ersten Schritt für Sichtbarkeit. Und erst wenn diese in der Gesellschaft angekommen ist, werden Maßnahmen ergriffen, um Menschen mit chronischen Erkrankungen zu unterstützen - z. B., indem Orte barrierefrei gemacht werden. Ein gutes Beispiel sind Toiletten: Wenn es mir schlecht geht, kann ich noch nicht mal im Supermarkt nebenan einkaufen gehen, weil dort keine Toiletten sind. Wenn es mehr Sichtbarkeit für unsichtbare Erkrankungen gäbe und man sich nicht für alles rechtfertigen oder alles erklären müsste, dann wäre schon viel getan.
Der andere Aspekt ist die Akzeptanz in der Gesellschaft. Niemand kann etwas für seine Erkrankung, aber gerade junge Menschen schämen sich häufig dafür. Wir brauchen also mehr Akzeptanz und weniger Tabuisierung von Erkrankungen.
 

Weitere Informationen

Mehr Informationen zum Thema Einsamkeit gibt es im Interview mit Nadine Reiche

Hier geht es zu den Studienergebnissen des TK-Einsamkeitsreports Schleswig-Holstein .