TK: Frau Austenat-Wied das Gesundheitswesen in Mecklenburg-Vorpommern befindet sich in einem umfassenden Reformprozess. Wurde dieser Prozess zu spät gestartet?

Manon Austenat-Wied: Dies ist eine spannende Frage. Ich möchte bei der Beantwortung eine versöhnliche Perspektive einschlagen. In der Rückschau wirken die durch den technischen Fortschritt getriebenen Veränderungen in den vergangenen dreißig Jahren wie Sprunginnovationen. Dabei zeigt sich bei einer genaueren und somit auch realistischeren Betrachtungsweise, dass die Gegenwart stets das Evolutionsergebnis der Vergangenheit ist. Nehmen wir zum Beispiel Smartphones in den Blick. Bevor mobile Telefone mit großen Bildschirmen der Standard wurden, gab es einen bunten Mobilfunkmarkt an den unterschiedliche Ideen und Konzepte konkurrierten. Es gab "Business-Geräte" mit QWERTZ-Tastaturen, die Telefone mit klassischem Ziffernblock, spezialisierte Handys für die Musikwiedergabe oder auch für Videospiele. In diesem Marktumfeld hat sich dann der Urvater des heutigen Smartphones durchgesetzt und die technischen Entwicklungen in Hard- und Software der folgenden Jahre geprägt. Es brauchte für den heutigen Zustand der Mobiltelefone genau diese Marktsituation und die vielfältigen Erfahrungen der Kundinnen und Kunden. Wenn Smartphones direkt nach den ersten Koffertelefonen auf den Markt gekommen wären, hätten sie sich wahrscheinlich nicht durchgesetzt. Auch weil das technische Umfeld, die Anforderungen der Nutzenden und weitere Entwicklungsschritte noch nicht weit genug gediehen waren.

Wenn wir dieses Beispiel nun abstrakter betrachten, wird aus meiner Sicht deutlich, dass Veränderungen in der Regel Evolutionsprozesse aus den vorhergegangenen Pfaden sind. Dies trifft auch auf das Gesundheitswesen zu. Die fehlenden Veränderungen der vergangenen Jahre resultieren daraus, dass die übermäßige Finanzierung der Versorgungsstrukturen im Ganzen die fehlende Passgenauigkeit von einzelnen Strukturen kaschieren konnte. Durch die fortschreitenden Veränderungsprozesse in Wirtschaft und Gesellschaft sowie die statisch bleibenden Strukturen im letzten Jahrzehnt, weichen diese nun weit von den Bedarfen der Patientinnen und Patienten ab. Dadurch entsteht ein Veränderungsdruck im System, der durch die politischen Reformen adressiert wird. Da wir ausbleibende Entscheidungen der Vergangenheit nicht revidieren können, sollten wir die Reformen zügig realisieren und uns dabei genau an den tatsächlichen Versorgungsbedarfen vor Ort orientieren. Dabei sollten die Reformen so aufgebaut sein, dass die Akteurinnen und Akteure des Gesundheitswesens zukünftig ohne neue politische Regelungen bedarfsnotwendige Strukturen herstellen können.

Manon Auste­nat-Wied

Manon Austenat-Wied, Leiterin der TK-Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern Das Bild ist noch nicht vollständig geladen. Falls Sie dieses Bild drucken möchten, brechen Sie den Prozess ab und warten Sie, bis das Bild komplett geladen ist. Starten Sie dann den Druckprozess erneut.
Leiterin der TK-Landesvertretung Mecklenburg-Vorpommern

TK: Sie plädieren also für eine Veränderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen und gleichzeitig mehr Verantwortung für die Player des selbstverwalteten Gesundheitswesens?

Manon Austenat-Wied: Wir - also alle Aktiven im Gesundheitswesen - haben in den vergangenen Jahren intensiv an einer gemeinsamen Zielvorstellung für das Gesundheitswesen im Land gearbeitet. Die optimale Versorgung vor Ort zugänglich machen, statt jedes Versorgungsangebot regional vorzuhalten lautet die Devise. Nur so können wir eine systematisch hohe Behandlungsqualität sicherstellen und diese in Zeiten knapper werdender Ressourcen sichern. Denn letztlich sind des die Beitragszahlenden, die das gesamte Solidarsystem finanziell schultern. 

Ich bin davon überzeugt, dass wir mit einer flexibleren Zulassungsverordnung für Vertragsärzte auf Bundesebene, einer bedarfsgenauen ambulanten und stationären Versorgungsplanung im Land und regional umgesetzten Innovationsprozessen eine Versorgungslandschaft kreieren können, die leistungsfähiger, effizienter und attraktiver für Patient:innen, Leistungserbringende sowie alle weiteren Beteiligten ist. Ich denke das Beschreiten des Veränderungspfads ist für die entscheidungstragenden Personen im Gesundheitswesen ohnehin unstrittig.

TK: Wo liegen aktuell die Hürden, die eine passgenauere Versorgungslandschaft verhindern?

Manon Austenat-Wied:  Fernab der oftmals bremsenden politischen Rahmenbedingungen sind es auch die fachlich konträren Positionen innerhalb der institutionalisierten Konflikte im Gesundheitswesen, die Veränderungen erschweren. Allerdings herrscht auch hier kein Stillstand, sondern kontinuierlicher Wandel. Wenn der politische Reflex, die Bruchstellen des Systems durch Steuergelder oder Beitragsmittel der gesetzlich Versicherten zu kitten, nachlässt, wird die Veränderungsgeschwindigkeit rapide ansteigen. 

Wir müssen den Transformationsprozess der Versorgung in Mecklenburg-Vorpommern gemeinschaftlich und zügig realisieren. Schon heute ist die Selbstverwaltung auf demokratischem Fundament die Garantie für die Bürgerinnen und Bürger des Landes für ein unabhängiges, sozial gerechtes und solidarisches Gesundheitswesen. Dass die Selbstverwaltung zukünftig auch ein Musterbeispiel für erfolgreich und zügig gestaltete Veränderungsprozesse ist, wird die laufende Dekade zeigen. 

TK: Vielen Dank für das Gespräch!