TK: Im aktuellen Koalitionsvertrag wird ein Primärarztsystem in Verbindung mit einer digitalen Ersteinschätzung vorgeschlagen. Auch die TK fordert in ihrem Zugangskonzept ein standardisiertes, digitales Ersteinschätzungstool. Welche Rolle kann ein solches Tool aus ihrer Sicht spielen, um den Zugang zum Gesundheitssystem zu verbessern? 

Dr. Tobias Gantner: Ein standardisiertes Ersteinschätzungstool kann eine Art "digitales Gesundheitstor" sein - offen, niederschwellig und intelligent. Es ermöglicht es, Patient:innen strukturiert in das System hineinzuführen, ihre Symptome einzuordnen, Risiken zu erkennen und sie zur passenden Versorgungsstufe zu lotsen - schnell, sicher und situationsgerecht.

Dr. Tobias Gantner

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Arzt, Gesundheitsökonom, Jurist, Philosoph und einer der führenden Vordenkern der digitalen Transformation im Gesundheitswesen.

Doch die größere Bedeutung liegt in der systemischen Wirkung: Ein solches Tool kann nicht nur Überlastung vermeiden, sondern auch Gesundheitskompetenz fördern und Selbstwirksamkeit stärken. Damit zahlt es auf die Demokratisierung des Gesundheitssystems ein - ein zentraler Aspekt der von mir beschriebenen 3D der Gesundheitszukunft: Demografie, Demokratisierung und Digitalisierung.

Damit diese Tools ihre Wirkung entfalten, müssen sie verständlich, evidenzbasiert und vertrauenswürdig sein - und idealerweise in Bildungskontexte integriert werden. Denn nur wer gelernt hat, digitale Tools zu nutzen und zu verstehen, kann sich souverän im System bewegen.

TK: Digitale Tools gewinnen zunehmend an Bedeutung in der Gesundheitsversorgung. Wie kann mithilfe digitaler Möglichkeiten die Gesundheitsversorgung vor Ort nachhaltig verbessert werden?

Dr. Gantner: Die digitale Gesundheitsversorgung vor Ort beginnt nicht beim Glasfaserkabel, sondern beim Menschen. Sie kann dann gelingen, wenn sie zugänglich, verständlich und anschlussfähig ist - kulturell, technisch und emotional.

Ob Telemedizin, smarte Pflegeassistenz oder KI-gestützte Versorgungspfade: Digital Health ermöglicht es, gerade im ländlichen Raum Präsenz durch Vernetzung zu ersetzen. Projekte wie die Digitale Residenzpraxis zeigen, wie Pflegekräfte mit erweiterten Kompetenzen und digitaler Unterstützung zur ersten Anlaufstelle für ganze Gemeinden werden können.

Doch Digitalisierung ist kein Selbstzweck - sie ist ein Mittel zur Wiederherstellung von Nähe. Das funktioniert nur, wenn wir parallel in die Menschen investieren. Dr. Tobias Gantner

Doch Digitalisierung ist kein Selbstzweck - sie ist ein Mittel zur Wiederherstellung von Nähe. Das funktioniert nur, wenn wir parallel in die Menschen investieren: in ihre digitale Mündigkeit, ihre Future Skills wie Ambiguitätstoleranz, kollaboratives Lernen und kritisches Denken.

Gesundheit wird so zum Bildungsauftrag - und umgekehrt. Denn nur wer versteht, kann mitgestalten. Und wer mitgestaltet, übernimmt Verantwortung. Genau das stärkt langfristig unsere Demokratie durch Partizipation.

Es geht aber nicht nur um die Bereitstellung von digitalen Werkzeugen und Technologie, sondern auch darum, dass Technologie Haltung zeigen muss. Diese Haltung basiert auf Werteurteilen, die wir als Gesellschaft erst noch miteinander aushandeln müssen: Wie gehen wir mit künstlicher Intelligenz um? Was bedeutet das Recht auf Nichtwissen? Wo verorten wir digitale Medizin - ausschließlich in ärztlicher Hand oder auch in der Apotheke?

Digitalisierung bedeutet auch, Berufe neu zu denken, Verantwortung neu zu verteilen und Vertrauen neu zu begründen. Und das ist eine zutiefst gesellschaftliche Aufgabe. Dr. Tobias Gantner

Wir stehen am Beginn eines tiefgreifenden Wandels in der Versorgung. Wir werden neue Berufsbilder sehen - etwa Physician Associates, die mit erweiterten Kompetenzen Patient:innen behandeln. Noch ist das Zukunftsmusik, aber wir befinden uns bereits auf dem Weg dorthin. Digitalisierung bedeutet auch, Berufe neu zu denken, Verantwortung neu zu verteilen und Vertrauen neu zu begründen. Und das ist eine zutiefst gesellschaftliche Aufgabe.

TK: Die Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) ist ein wichtiger Schritt für das Gesundheitswesen und ermöglicht einen schnellen und sicheren Austausch von Informationen. Welche Vorteile bietet die ePA aus Ihrer Sicht? 

Dr. Gantner: Die ePA ist mehr als ein digitaler Datenspeicher - sie ist ein Meilenstein für ein lernendes, vernetztes Gesundheitssystem. Sie erlaubt es, Informationen sektorenübergreifend verfügbar zu machen, Behandlungen zu koordinieren und Fehler zu vermeiden.

Doch aus meiner Sicht ist die ePA auch ein kultureller Lernraum: Sie zwingt uns, über Verantwortung, Transparenz und Datensouveränität neu nachzudenken. 

Richtig gedacht, ist die ePA nicht nur ein Instrument für Ärzt:innen, sondern auch ein Werkzeug für Patient Empowerment. Damit sie diesen Anspruch erfüllt, muss sie intuitiv, vertrauenswürdig und zukunftsfähig sein - also offen für Schnittstellen, KI-Integration und nutzerorientiertes Design.

Die Daten in der elektronischen Patientenakte müssen auch für Forschungszwecke zugänglich gemacht werden. Nur mit neuen statistischen Methoden, die auch die Hilfe von künstlicher Intelligenz mit umfassen, werden wir in der Lage sein, Zusammenhänge zu erkennen, die wir bisher wissenschaftlich noch nicht herausarbeiten konnten. Daraus werden wir zeigen können, dass für die einzelnen Bürgerinnen und Bürger ein direkter Nutzen entsteht, Daten in der elektronischen Patientenakte zu sammeln, zu ordnen und einer Verwendung zur Verfügung zu stellen.

In einer alternden Gesellschaft - Demografie - und unter dem Druck knapper Ressourcen brauchen wir Systeme, die Wissen teilen, statt es zu horten. Die ePA kann dabei zur Infrastruktur einer neuen Gesundheitsdemokratie werden - wenn wir den Menschen in den Mittelpunkt stellen.

TK: Sie haben bereits an verschiedenen Projekten im Bereich der Digitalisierung des Gesundheitswesens mitgewirkt. Welche Erfahrungen haben Sie bei der praktischen Umsetzung dieser Projekte gemacht? 

Dr. Gantner: Digitalisierung funktioniert nicht durch Technik allein - sie ist in erster Linie eine Frage der Haltung. In Projekten wie ohnearztpraxis.de oder HealthCare MakerMobil haben wir gesehen, wie wichtig es ist, Menschen nicht nur zu versorgen, sondern zu befähigen.

Es braucht mutige Zukunftsmodelle, die wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort entwickeln, ausprobieren und auf Basis der Erfahrungen verfeinern. Nur so entstehen nachhaltige, akzeptierte Lösungen. Dr. Tobias Gantner

Was dabei entscheidend ist: Erfolgreich sind jene Projekte, in denen Gestaltungsspielräume eröffnet werden. Wo Pflegekräfte mit digitalen Tools arbeiten dürfen. Wo Bürger:innen in Pilotprojekten selbst zu Citizen Scientists werden. Wo Bürgermeister:innen mit Ärzten, Startups und Studierenden gemeinsam Prototypen entwickeln.

Gerade in ländlichen Regionen müssen wir das Continuum of Care - also die kontinuierliche Versorgungskette von Prävention über Akut- bis Langzeitversorgung - komplett neu denken. Klassische Strukturen greifen dort oft nicht mehr. Es braucht mutige Zukunftsmodelle, die wir gemeinsam mit den Menschen vor Ort entwickeln, ausprobieren und auf Basis der Erfahrungen verfeinern. Nur so entstehen nachhaltige, akzeptierte Lösungen.

Wer Zukunft will, muss Räume schaffen, in denen man Fehler machen darf, lernen kann und an gemeinsamen Lösungen arbeitet. Digitalisierung bedeutet dann nicht Kontrolle, sondern Vertrauen in kollektive Innovationsfähigkeit. Dr. Tobias Gantner

Es braucht Formate, in denen Zukunft erlebt werden kann: Hackathons, digitale Lernreisen, Co-Creation-Workshops. Das sind keine Spielereien - das sind demokratische Werkstätten. Wer Zukunft will, muss Räume schaffen, in denen man Fehler machen darf, lernen kann und an gemeinsamen Lösungen arbeitet. Digitalisierung bedeutet dann nicht Kontrolle, sondern Vertrauen in kollektive Innovationsfähigkeit.

TK: Beim kommenden Digitalisierungskongress im Saarland blicken Sie aus ganzheitlicher Perspektive auf die Digitalisierung des Gesundheitswesens. Wie wichtig sind solche Kongresse auf regionaler Ebene für die Weiterentwicklung der digitalen Gesundheitsversorgung? Wie können diese Veranstaltungen dazu beitragen, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben?

Dr. Tobias Gantner: Regionale Digitalisierungskongresse sind heute wichtiger denn je - nicht nur als Fachveranstaltungen, sondern als soziale Begegnungsräume für Veränderung. Sie sind die Orte, an denen Demokratisierung, Bildung und Innovation miteinander in Resonanz treten. Ich sehe darin eine Chance, das Gesundheitswesen nicht nur zu reformieren, sondern neu zu denken. 

Gerade die lokale medizinische Versorgung profitiert von solchen Foren: Hier werden konkrete regionale Herausforderungen sichtbar - etwa weite Wege zur nächsten Praxis, Unterversorgung in der Gynäkologie oder der Mangel an Hausärzt:innen - und können gemeinsam mit digitalen Lösungen adressiert werden. Telemedizinische Stützpunkte, mobile Versorgungseinheiten oder KI-gestützte Assistenzsysteme entstehen oft nicht aus zentralen Strategien, sondern aus lokalem Bedarf, gepaart mit Innovationsfreude vor Ort.

Solche Kongresse sind ein Trainingsfeld für Future Skills wie Kollaboration, Kreativität, kritisches Denken - und für die Einübung einer neuen Haltung: einer Haltung, in der wir Technologie nicht als Ersatz für Menschlichkeit sehen, sondern als Ermöglicher für ein gerechteres, klügeres, nachhaltigeres Gesundheitssystem.

Die Verbindung von Demografie, Demokratisierung und Digitalisierung bildet dafür das Koordinatensystem. Und Bildung ist der Schlüssel, der die Tür aufschließt. Gesundheit wird zur Plattform für gesellschaftlichen Zusammenhalt - und das macht sie politisch und demokratisch unverzichtbar.

Zur Person

Dr. Tobias Gantner ist Arzt, Gesundheitsökonom, Jurist und Philosoph. Als Gründer der HealthCare Futurists GmbH zählt er zu den führenden Vordenkern der digitalen Transformation im Gesundheitswesen. Mit seiner Erfahrung aus Klinik, Industrie und Wissenschaft entwickelt er innovative Versorgungsmodelle und Zukunftsszenarien, die Technologie, Ethik und Partizipation vereinen.

Dr. Gantner war in leitenden Positionen bei Siemens, Novartis und Bayer tätig, bevor er eigene Projekte wie die ohnearztpraxis.de, die Digitale Residenzpraxis und das HealthCare MakerMobil initiierte. Er ist TEDx-Speaker, hat mehrere Innovationspreise gewonnen und ist international gefragter Keynote-Redner.

Sein Ziel: ein Gesundheitswesen, das demokratisch, digital und menschlich ist - mit Technologien, die Haltung zeigen, und Menschen, die befähigt werden, ihre Zukunft mitzugestalten.